Donnerstag, 5. November 2015

Моя католическая подруга
Kaum hielten wir uns fünf Minuten im Puschkinhaus auf, dem Museum für russische Literatur, fiel auf der ganzen Wassiljewski-Insel der Strom aus und die russische Literatur versank im Dunkel der russischen Geschichte.

Nachdem sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten (wie oft wurde dieser Satz schon in Abenteuerromanen geschrieben) erblickten wir Tolstois Stiefel.
Gleich neben der Vitrine mit den von Tolstoi eigenhändig geschusterten Stiefeln hängt eine Kopie von Repins Tolstoi-Portrait: der Dichter in seinem Bauernhemde, das ganze Generationen von Nachfolgern dazu verleitete, im Schlabberlook durch russische Wälder zu laufen. Aber was sieht man auf dem Bild an seinen Füßen? Nichts. Repin hat ihn barfüßig dargestellt. Barfuß! Obwohl Tolstoi nie ohne seine Stiefel im Haus oder gar aus dem Haus gegangen war. Als Tolstoi das Bild erblickte, rief er entrüstet: „Ohne Stiefel! Dieser Repin hat mich geradezu nackt gemalt!“

Anna hat ja zu jedem Ausstellungsstück einen russischen Roman zu erzählen. Das ist die Feder, mit der dieser (oder war es jener) das (oder war es jenes) Werk geschrieben hatte. Der Säbel von ... genau, Lermontow, und die Brille des ..., ich habs vergessen. Aber dann - Gogols Sessel nahte - nach zwei Stunden spannender Versunkenheit in die russische Literatur, wie gern wäre ich nun genau darin versunken. Nicht einmal ein Schild, das es mir verböte, und die Aufseherin vom Stromausfall verscheucht.

Моя католическая подруга:
Mandelstams Schreibtisch: In den letzten Jahren, als sich sein Wohnsitz immer weiter nord-östlich verlegte, hat er ihn nicht mehr gebraucht. Es war üblich geworden, Gedichte in dieser finsteren Zeit des stalinistischen Terrors nur noch im Schädel zu schreiben – und sie im Gedächtnis seiner Liebsten zu duplizieren. Nadeschda, seine Frau, lernte die Gedichte auswendig. Ihr Gehirn war das Archiv seiner Lyrik. Der Schreibtisch – das Relikt einer sorglosen und opulenten Schreib-Freiheit. 


Моя католическая подруга:
Ganz hinten im Küchentrakt des Museums verstaubten die Schlappen des deutschen Dichters Christian Kreis, die er trug, als er sich im Herbst 2015 in einer Kommunalka in St. Petersburg aufhielt. Diese Reliquien verdienten noch einen würdigen Platz in einer Vitrine.

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