Montag, 14. Dezember 2015

Der letzte Abend in St. Petersburg. Zwei Monate sind um. Ich fühle mich schlank und durchtrainiert, und rechne mir einige Chancen aus, für den Olympiakader der Geher genommen zu werden. Durchschnittlich bin ich drei Stunden durch Petersburg gegangen, damit habe ich mein Bewegungskontingent für das Jahr 2016 bereits vollständig aufgebraucht. Aber am letzten Abend ging ich noch einmal über den Litejnyj-Prospekt. Hier schlug das literarische Herz von Petersburg, lebten Achmatowa und Brodsky. Und wenn man ihn komplett vom Newski bis zur Newa entlanggeht, kommt man am monolithischen Betonklotz des KGB vorbei, in dem jetzt die Nachfolger der Tschekisten sitzen.  



Am Litejnyj liegt auch das Borej, und Anna hat dort zum Abschied eine kleinen Tisch vorbereitet. Mit den Schriftstellern Dima Grigorjew und Sergej Nossow, und wer sich sonst noch dazugesellen mag. Und Anna würde deutsche Stolle und alkoholfreien Glühwein aus Finnland mitbringen. Ich wollte noch eine Flasche Wodka auf den Tisch stellen, da mir alkoholfreier Glühwein aus Finnland eigentlich nur mit hartem Alkohol aus Russland genießbar erschien. Doch kurz vorher rief mich Anna an, und meinte, daß auch Pawel Krussanow anwesend sein würde, den sie nur den Dicken nannte. Der mir gar nicht so dick vorkam, weshalb ich anfangs immer gar nicht wußte, von wem die Rede war, weil doch alle Literaten im Borej ungefähr gleich dick waren oder, besser gesagt, die gleiche männliche Statur aufwiesen, die man hat, wenn das Leben nicht ungelebt vorübergezogen ist. Irgendwann begriff ich, daß diese liebevoll zugespitze Benennung Pawel Krussanows einer Eigenschaft geschuldet war, die ihn von seinen Kumpels, Sergej Nossov und Dima Grigorjew, nun wirklich unterschied. Er vertrug unglaublich viel Wodka. Und das ist natürlich unfair denen gegenüber, die mit ihm trinken müssen. Außerdem seien die beiden nur in seiner Gesellschaft, so Anna, in unguter Weise dem Wodka zugeneigt. Allerdings hatte ich Sergej Nossov auch schon sturzbesoffen gesehen, da war weit und breit nichts vom „Dicken“ zu sehen gewesen. Ich vermute, daß jeder russische Mann so einen Dicken als Freund hat, selbst wenn man ihn nicht sieht. Es ist der dicke Schatten des Wodkas, der über das Pflaster von Petersburg kriecht, während man nach Hause schwankt und lallt, der Dicke war schuld, es war doch wieder dieser Dicke, verdammt!


Dima Grigorjew, Sergej Nossov und Anna 

Also habe ich keinen Wodka, diesen unberechenbaren Flaschengeist, sondern lieber zwei Rotweine mitgebracht. Schmeckt sowieso besser. Und selbst der schlechteste Rotwein schmeckt immerhin schlecht, was man von Wodka nicht behaupten kann. Außer man hat so eine neumodische Sorte erwischt, bei der diesem Schnaps, dessen Güte ja darin besteht, nach nichts zu schmecken, doch noch irgendeine Geschmacksnuance zugefügt wurde.
Anna hatte schließlich alles wunderbar vorbereitet. Es gab eine Platte mit Kartoffeln, Salat und Katletts (so heißt der Klops auf Russisch). Die Stolle lag angeschnitten zum Verputzen. Die Männer nippten sogar am finnischen Glühwein, bevor sie freudig dem italienischen Rotwein zusprachen. Es war ein Abschied, wie ich ihn schöner nicht hätte haben können. Und am liebsten wäre ich noch eine Flasche Wein in einem der immer geöffneten Produkteu besorgen gegangen, wenn Anna nicht voller Sorge davon abgeraten hätte.
Sie hatte ja recht. Am Morgen würde ich um sechs aufstehen müssen. Ich mußte ins Bett. Doch im Bett kam ich nicht in den Schlaf. Und dann auch noch das. Ich hörte es in Ninas Zimmer rumoren und vor sich hin zischen. Was nicht sein konnte, denn Nina war längst in Richtung Murmansk abgedampft, auf der Jagd nach dem prächtigsten Nordlicht. Und bis zum Delirium hat der Rotwein nicht gereicht. Ich stehe auf und gehe nach nebenan. Unterm Sessel vielleicht? Im Kleiderschrank? Welche bösen Geister wollen mir zum Abschied den Schlaf verderben? Mit einem Ruck ziehe ich die Schranktür auf, er purzelt mir entgegen.


„Dserschinski!“
„Genau der.“
„Was soll das Theater?“
„Ich will wieder an einer Wand hängen, im Flur zum Beispiel, gleich neben dem Spiegel“.
„Vergiß es!“
„Oder nimm mich mit nach Halle.“
„Bloß nicht.“

Schnell stopfe ich ihn zurück, zwischen Staublappen und Pappkartons. Es wird wohl Zeit, endlich heimzukehren.


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